„Sie sind jung und ehrgeizig. Ihr Feindbild sind die Grünen, mit ihren Auftritten wollen sie provozieren. Wir haben Nachwuchspolitiker der AfD gefragt, was sie so aufregt.
Von  und 
ZEITMAGAZIN NR. 52/20165. JANUAR 2017

1. Berlin

An einem sonnigen Tag im September steht Marc Vallendar neben einer weißen Plastikkiste, die er am Berliner Ku’damm auf den Bürgersteig gestellt hat. Auf der Kiste liegen Broschüren seiner Partei, der AfD. In ein paar Tagen ist Wahl in Berlin, und Vallendar will Abgeordneter werden. Er trägt ein Polohemd, unter den Achseln zeichnen sich Schweißflecken ab, es liegt wohl nicht allein an der Hitze.

Gerade war ein Mann da, der die Broschüren, die Vallendar ihm gab, zerriss. „Scheißnazis!“, brüllte er und spuckte vor Vallendar und den beiden anderen AfD-Leuten auf den Boden. Dann ging der Mann wieder, zum Glück. Viermal, sagt Vallendar, habe er im Wahlkampf den Polizei-Notruf gewählt, einmal habe ihm jemand ins Gesicht geschlagen. Die Polizei hat die Pöbler nie gefasst. Das hält Vallendar nicht davon ab, jeden Tag irgendwo in der Nähe des Ku’damms für die AfD zu werben.

Vallendar, 30, ist Rechtsanwalt, seit einem Dreivierteljahr erst, seine Kanzlei befindet sich in seinem Wohnzimmer. Wenn er keinen Anzug trägt und den Seitenscheitel nicht mit Gel glatt gezogen hat, wie an diesem Tag, könnte man ihn für einen Studenten halten, der in Neuköllner Bars herumhängt.

Vallendar nennt seine politische Haltung „nationalliberal“. Er meint damit, dass Nationen ihre Probleme am besten selbst lösen könnten. Allein mit dem Begriff „Nation“ kann man in Deutschland provozieren, und Vallendar will genau das. Er redet gern über das 19. Jahrhundert und die Geburtsstunde des deutschen Nationalstaats, um zu zeigen, wie er sich verortet. Er macht dann weit ausholende, würdevolle Gesten, als sei er bereits ein Staatsmann.

 

Bisher galt die AfD als Altmännerpartei – aber das verändert sich jetzt. Zum ersten Mal fiel das auf, als die AfD im Frühjahr 2016 in drei neue Landtage einzog, in Sachsen-Anhalt, Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz. In allen Landtagen, in denen die AfD bis dahin schon vertreten war – in Hamburg, Bremen, Brandenburg, Sachsen und Thüringen –, gibt es nur zwei jüngere Abgeordnete, sie sind Anfang bis Mitte dreißig. In den neuen Landtagen kamen dann gleich 15 Jüngere dazu, in Mecklenburg-Vorpommern später noch mal zwei und in Berlin vier. Einer von ihnen ist Vallendar.

Jung und rechts zu sein, das ist weniger ungewöhnlich, als es scheint: In den meisten Landtagswahlen der letzten Zeit hat die AfD bei jüngeren Wählern besonders gut abgeschnitten. In Sachsen-Anhalt wurde sie bei den bis zu 44-Jährigen sogar stärkste Partei. Und nach einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Allensbach ist jeder vierte deutsche AfD-Anhänger nicht einmal 30 Jahre alt.

Marc Vallendar ist auch Mitglied bei der Jungen Alternative, der Jugendorganisation der AfD, wie praktisch jedes AfD-Mitglied unter 36. Die Junge Alternative hat 1400 Mitglieder. Das ist nicht viel im Vergleich zur Jungen Union, die 100 000 Mitglieder hat. Dafür fällt die Junge Alternative öfter auf – etwa mit der Forderung „Einreisestopp für Muslime“, die sie nach dem Anschlag in Nizza verbreitete. Sie stammte von einem der beiden Vorsitzenden der Jungen Alternative, Markus Frohnmaier, einem 25-Jährigen Jurastudenten aus Tübingen. Die Junge Alternative steht eher rechts von der Mutterpartei. Manche ihrer Mitglieder gehen zu den Treffen der rechtsextremen Identitären Bewegung, die vom Verfassungsschutz beobachtet wird, oder sie werben offen für eine Zusammenarbeit.

Wer sind diese jungen AfD-Funktionäre? Worauf gründen sie ihre Überzeugungen, woher rührt die Härte ihrer Rhetorik? Die Suche nach Antworten beginnt in Berlin, bei Marc Vallendar.

An seinem Stand hat er sich gegen Mittag direkt neben der Plastikkiste postiert, als wolle er, falls nötig, sofort in Deckung gehen können. Doch wenn mal ein Passant stehen bleibt, wird Vallendar meistens mit Lob überschüttet. Ihn und seine Meinungen kennenlernen will niemand. Wenn er nicht beschimpft oder bejubelt wird, dann wird er ignoriert.

Spricht man länger mit ihm, fällt auf: Er möchte unbedingt seriös wirken. Vor Kurzem hat er in einem Interview gesagt, er schäme sich „für den ein oder anderen“ in der AfD. Für wen genau? Er wagt es dann doch nicht, Namen zu nennen. „Für die Boateng-Sache“, sagt er nur. Er meint das dem stellvertretenden AfD-Bundesvorsitzenden Alexander Gauland zugeschriebene Zitat, die Deutschen wollten nicht neben einem Schwarzen wie dem Fußballer Jérôme Boateng wohnen. Nicht in Ordnung findet Vallendar auch den Begriff „völkisch“, den die Parteivorsitzende Frauke Petry verwendet und dann zu rechtfertigen versucht hat. Vallendar hält ihn für „zu Recht negativ konnotiert“.

Marc Vallendar stammt aus einer Familie, in der man immer CDU oder FDP gewählt hat. Er selbst war Mitglied der FDP, bis diese sich 2012 in einem Mitgliederentscheid für den Euro-Rettungsschirm aussprach. Das war für ihn der Wendepunkt: eine Entscheidung gegen die Interessen der deutschen Bevölkerung, wie er findet, vertreten mit einer großen Mehrheit im Bundestag. Das Gleiche dann in der Flüchtlingskrise. Viele junge AfD-Leute nennen diese beiden Ereignisse als Schlüsselmomente, die sie zur AfD brachten.

Aufgewachsen ist Vallendar in der Nähe des Wannsees, in einer wohlhabenden Gegend Berlins. Seine Mutter war Bankkauffrau, sie ist 1945 in Ostpreußen geboren. Sein Vater ist Bundesverwaltungsrichter im Ruhestand. Vallendar verpflichtete sich für zwei Jahre bei der Bundeswehr, aus Überzeugung, wie er sagt. Während des Jurastudiums war er in einer Burschenschaft. Statt sich wie viele andere junge Leute an seiner Umgebung zu reiben, hat er das Konservative um sich herum nur aufsaugen müssen. Es ist ihm allerdings wichtig zu erwähnen, dass manche seiner Freunde in der SPD sind. Auch bei den Grünen? „Nein, das wäre am unkompatibelsten.“ Die Grünen sind für ihn und viele junge AfDler der Inbegriff dessen, wogegen sie kämpfen: Ideologen, die anderen vorschreiben, wie sie zu leben haben, und ständig mit Moral argumentieren.

Ausgerechnet die Grünen. Obwohl sie früher selbst einmal gegen die herrschende Ordnung antraten, stünden sie heute für den Mainstream, dem sich alle unterordnen müssten – sagt der Wiener Jugendforscher Philipp Ikrath. „Die Grünen stehen für Liberalismus und Globalisierung, für einen Konsens, der nicht hinterfragt werden darf, will man nicht moralisch verurteilt werden.“

Ikrath, der über den Erfolg der FPÖ in Österreich forscht und lange in Deutschland gelebt hat, sieht in rechten Gruppierungen wie der AfD auch eine Jugendbewegung, die sich als aufsässig und revolutionär inszeniert. „Wie die 68er sehen sie sich als die einzige Opposition, die sich traut, gegen das System aufzustehen. Die FPÖ ist in Österreich auch deshalb auf dem Weg zur Volkspartei, weil sie sich jugendlich und tatkräftig gibt, mit vielen jungen Leuten in vorderster Reihe. So strahlt sie in bürgerliche und sogar in intellektuelle Kreise aus.“ Wird der AfD Ähnliches gelingen, mit Nachwuchspolitikern wie Marc Vallendar?

Wahrscheinlich wirkt er nur deshalb so selbstsicher, weil er weiß, dass er für das Milieu spricht, aus dem er kommt – und für die eigene Familie. Die stehe hinter ihm. Viele AfD-Leute litten an ständigen Streitereien mit Freunden und Verwandten, die ihre Meinungen nicht teilten, da habe er Glück. Vallendars Milieu, das war früher der rechte Rand der CDU. Jetzt, da die CDU nach links gerückt ist, fühlt er sich dort nicht mehr zugehörig. Auf die Frage, was ihn mit anderen AfD-Leuten verbinde, sagt er: „Das Gefühl, alle sind gegen einen.“ Die Partei sei „eine große Familie“.

Einige Tage nachdem Marc Vallendar an seinem Stand als Nazi beschimpft worden ist, feiert seine Partei ihren Berliner Wahlerfolg: 14,2 Prozent. Die Party findet im Charlottenburger Ratskeller statt, bei Currywurst mit Pommes, es gibt Bier in Krügen. Man sieht viele dunkle Jacketts und akkurat gefaltete Einstecktücher. Vallendar hat sich ebenfalls große Mühe gegeben: Er trägt einen dunkelblauen Anzug, dazu eine hellblaue Krawatte über einem weißen Hemd, am Revers steckt eine winzige Deutschlandfahne. Die Haare glänzen, sie sind zur Seite gekämmt. Er ist nicht der Typ, der in Jubel ausbricht, wie viele andere in dem Gewölbekeller, die So ein Tag, so wunderschön wie heute singen. 24 Abgeordnete kommen für die AfD ins Berliner Abgeordnetenhaus, auch Vallendar hat es mit seinem Platz 13 auf der Landesliste geschafft. Kurz nach der Verkündung der ersten Hochrechnungen und zwei, drei Umarmungen von Parteifreunden geht er eine Zigarette rauchen.

Draußen hat die Polizei den Gehweg und einen Teil der Straße weiträumig abgesperrt. Etwa 20 Meter weiter hat sich ein kleiner Haufen Demonstranten versammelt, die Beschimpfungen herüberrufen. „AfD Rassistenpack!“ Vallendar guckt nur kurz hin. „Im Moment müssen wir da durch“, sagt er, als würden diese Gegenstimmen bald verstummen. Als sei es nur eine Frage der Zeit.

2. Sachsen

Am Dresdner Hauptbahnhof gibt es an diesem Morgen einen Bombenalarm, kein Zug fährt mehr ein oder aus. Es erscheint wie ein Zeichen dafür, wie angespannt die Stimmung ist in dieser Stadt. Franziska Schreiber, die stellvertretende Vorsitzende der Jungen Alternative in Sachsen, wartet auf der Terrasse eines Restaurants. Sie ist 25, ihr rötliches Haar ist schulterlang. Schreibers Heimat ist zum Symbol geworden. Die einen sehen darin die hässliche Fratze Deutschlands, die der Kanzlerin „Volksverräter“ entgegenbrüllt, für die anderen ist sie der Ausgangspunkt einer neuen politischen Bewegung.

Auch Schreiber selbst weiß bereits, wie es sich anfühlt zu polarisieren. Durch einen Facebook-Post wurde sie bekannt. „Leugnen kann man nur ein Verbrechen, das man selbst begangen hat. Wenn man behauptet, dass es den Holocaust nie gegeben hat, dann hat man eine andere Meinung als so ziemlich alle Historiker der Welt, aber das sollte kein Verbrechen sein. Ich bin für schrankenlose Meinungsfreiheit“, schrieb sie im Mai 2015. „Blöde Sache“, sagt sie heute. Diesen Post wird sie nun nicht mehr los. Für die Öffentlichkeit ist sie fortan die Frau, die die Leugnung des Holocausts legitimiert. Eigentlich wollte sie dagegen protestieren, dass Beatrix von Storch bei einer Veranstaltung ausgeladen wurde. Daraufhin sei die Diskussion im Netz „irgendwie abgeglitten“, sagt Schreiber: „Ich bereue das, das war unnötig.“ Sie ist der Meinung, in einer Demokratie dürfe man auch „ekelhafte Sachen“ sagen. „Aber in Deutschland wäre es in einer Zeit des erstarkenden Antisemitismus eine Taktlosigkeit, die Leugnung des Holocausts straflos zu stellen.“ Ein etwas komplizierter Satz. Und: nur eine Taktlosigkeit?

Die AfD nutzt Tabubrüche, um sich immer wieder in den Vordergrund zu schieben. Wer am lautesten schreit, wird am ehesten gehört. Und die Jungen in der AfD schreien besonders laut. Franziska Schreiber glaubt, diese Tabubrüche geschähen oft unabsichtlich, schlicht aus historischer Ahnungslosigkeit. Andererseits ist sie stolz auf die beispiellose Aufarbeitung der deutschen Vergangenheit, Deutschland sei auch in dieser Hinsicht großartig. Trotzdem ist für sie der Zweite Weltkrieg ein „Totschlagargument“. Sie sagt: „Uns fehlt Patriotismus. Wir müssen erst mal unser eigenes Land lieben.“

In den Gesprächen mit den Jungen der AfD geht es oft um Liebe. Die Liebe zu Deutschland. Aber Liebe ist ein Gefühl, das man nicht verordnen kann. Diese Liebe steht im Widerspruch zu Schreibers Abscheu vor „Gefühlsduselei“, die sie immer wieder betont. Zu diesen „Kinderaugen-Argumenten“, die sie bei den Linken verortet und die sie ebenso abstoßen. Tatsächlich führte die Ablehnung mancher Emotionen Franziska Schreiber in die AfD.

Im Jahr 2013 saß sie vor dem Fernseher und schaute eine Talkshow –hart aber fair – über die Euro-Rettung. Sie fand, dass alle Gäste das Gleiche erzählten, bis Bernd Lucke auf dem Bildschirm erschien. Franziska Schreiber imponierte der rationale Ton des Wirtschaftsprofessors und AfD-Gründers. Damals studierte sie Rechtswissenschaften in Leipzig. Ein paar Wochen nach der Sendung trat sie in die Partei ein. Zuvor hatte Franziska Schreiber einmal schwarz-gelb gewählt und war enttäuscht worden. „Ich wollte nicht, dass die Wehrpflicht abgeschafft wird, und war auch gegen die Abkehr von der Atomkraft.“

Ihre Familie wählt die „SPD oder schlimmer“, wie sie sagt. Sie ist links sozialisiert, ihr Urgroßvater kämpfte als Kommunist im Widerstand gegen die Nazis. Genaueres weiß sie nicht, ihre Oma redet nicht gern darüber. Schreibers Großvater war in der SPD, und ihre Mutter, eine Bauingenieurin, ist „eine klassische Grüne“. Franziska Schreiber war mit 14 Jahren selbst „besorgniserregend links“, kritisierte ihre Verwandten für alles, was sie konsumierten, trat in einem Theaterverein gegen rechts auf. Was führte zum Umbruch? Schreiber schaut in die Sonne. Sie findet nicht, dass sie sich überhaupt verändert hat. Sie findet, ihre Familie argumentiere zu gefühlsbetont, lasse sich zu sehr von persönlichen Antipathien und Sympathien leiten. Da sei es dann zum Beispiel nicht mehr so entscheidend, ob Gregor Gysi bei der Stasi war oder nicht. Früher traf sich Schreibers Familie zweimal im Monat und diskutierte. Schreibers Schwester engagiert sich in der Antifa. Die beiden hätten einen „Burgfrieden“ geschlossen, sagt Schreiber. Sonst könnten sie sich nicht mehr sehen. Am Anfang bemühten sich die Eltern, die Tochter umzustimmen. Wenn Franziska Schreiber heute nach Hause fährt, versuchen alle, das Thema Politik zu meiden. Ihre Familie ist verstummt. „Mit der AfD kann man das Establishment mehr ärgern als mit den Linken“, sagt Franziska Schreiber. In vielen Fällen offenbar auch die eigenen Eltern.

Schreiber spricht laut, ihre Sätze enden oft mit Ausrufezeichen. Das fällt auf am Nachwuchs der AfD: Die Gesprächspartner bemühen sich um größtmögliche Vehemenz, als seien sie seit Jahren im politischen Geschäft. Kaum einer zweifelt an sich selbst oder an seinen Aussagen. Sie geben die Polit-Profis und klingen doch manchmal, als müssten sie ihre eigene Unsicherheit übertönen.

Franziska Schreiber arbeitet als Referentin eines AfD-Landtagsabgeordneten, hat ihr Jurastudium abgebrochen und studiert jetzt an der Fern-Uni Politikwissenschaften. Sie stellt sich auf eine Karriere in der Politik ein. „Mein Gesicht ist für alles andere verbrannt“, sagt sie. Und die Partei verspricht schnellen Aufstieg. „Es ist noch nie so einfach gewesen, in den Bundestag zu kommen.“

Der Frauenanteil in der AfD ist mit 16 Prozent der geringste von allen Parteien. Und Schreiber ist die einzige Frau im 16-köpfigen Bundesvorstand der Jungen Alternative. Es gibt kaum Themen, über die sich junge AfD-Anhänger mehr aufregen können als über Feminismus oder Gendertheorien. Schreiber empfindet beides als übergestülpte Debatten. Darin offenbart sich auch ein Ost-West-Gegensatz. Die Frauen in Schreibers Familie haben stets gearbeitet, einer Hausfrau ist sie in ihrem Umfeld nie begegnet. Für Schreiber ist das Thema Gleichberechtigung abgehakt, eine Selbstverständlichkeit, nichts, womit man sich weiter beschäftigen müsste. Mit dem AfD-Slogan von der „Diskriminierung der Vollzeitmutter“ verbindet sie nichts. Auch die Abtreibung, die ihre Partei nun erschweren will, war in der DDR seit 1972 legal. Nicht für alle in der AfD ist die Gleichstellung von Mann und Frau so gewiss wie für sie, das weiß sie. Es scheint, als habe sie sich dafür entschieden, lieber nicht über diese Widersprüche nachzudenken.

In Dresden begegnen Schreiber nun öfter vollverschleierte Frauen. Bis 2015 kannte sie die nur aus Reiseberichten. „Extrem befremdlich“, sagt sie. „Ich dachte, es gibt das Vermummungsverbot.“ Dass überhaupt so viele Flüchtlinge kämen, sei für die Sachsen neu. Im vergangenen Jahr wohnte Schreiber gegenüber einer Notunterkunft. Manchmal, sagt sie, seien ihr beim Joggen ein paar Männer hinterhergelaufen. Von einer Islamisierung ist Sachsen weit entfernt, nur 0,48 Prozent der Bevölkerung sind Muslime. „Wer weiß, was noch kommt“, sagt Schreiber und schweigt. Anscheinend geht es ihr doch um Gefühle – eine Mischung aus Angst vor Fremden, Furcht vor Veränderungen und dem Eindruck, irgendwie nicht genügend wahrgenommen zu werden. „Die AfD ist wie ein Hilferuf: Kümmert euch um uns!“, sagt Schreiber. Als sie aus dem Restaurant tritt, überquert eine vollverschleierte Frau die Straße, sie schiebt einen Kinderwagen. Schreiber triumphiert: „Sehen Sie!“

3. Rheinland-Pfalz

Damian Lohr, 23, ist der jüngste Landtagsabgeordnete der AfD. Ein Mann mit schütterem Bart, er trägt ein braun kariertes Hemd. In dem gut gefüllten Café in der Nähe des Mainzer Landtags, in dem man ihn trifft, scheint er unter all den Großstädtern fast zu verschwinden. Er ist so unscheinbar wie die rheinland-pfälzische AfD, die sich noch keine Skandale geleistet hat.

Um zu beschreiben, wo er politisch steht, sagt er: „in der Franz-Josef-Strauß-Ecke“. Der langjährige bayerische Ministerpräsident und CSU-Chef starb lange vor Lohrs Geburt, Lohr hat sich seine Reden auf YouTube angesehen. Schon Strauß habe vor der „rot-grünen Ideologie“ gewarnt, die heute in Deutschland herrsche. Von seiner Statur her, mit seinem breiten Gesicht, erinnert Lohr selbst ein wenig an Strauß.

Stolz erzählt er, dass er schon in der Schule mit seinen Ansichten aufgefallen sei. Die meisten Lehrer seien links gewesen, die habe man gut provozieren können. Im Sozialkundeunterricht meldete sich Lohr: Er teile die Begeisterung für den Arabischen Frühling nicht. In Ländern wie Ägypten werde doch nur ein totalitäres System durch das nächste ersetzt. Alle hätten komisch geguckt, nicht nur der Lehrer. Und habe er, Lohr, etwa nicht recht behalten mit Ägypten? Es scheint, als habe er aus seiner Oppositionshaltung viel Selbstbestätigung gezogen.

Fast sein ganzes Leben hat Lohr auf dem Land verbracht. Groß geworden ist er in Kriegsfeld, einer 1.000-Einwohner-Gemeinde in der Pfalz. Er wächst bei der Mutter auf, einer Bürokauffrau, er sei „nicht ideologisch erzogen“ worden. Mit 19 tritt er der AfD bei, „weil die CDU ihre Werte aufgegeben hat zugunsten jener der SPD“. Mit 20 geht er nach Mainz, um Wirtschaftsrecht zu studieren.

An diesem Sommertag in Mainz ist es noch einige Wochen hin bis zur Präsidentenwahl in den USA, und über Donald Trump hat man in deutschen Medien praktisch nur Negatives gehört oder gelesen. Lohr aber sagt: „Ich finde Trump sympathisch.“ Viele junge AfDler hört man von Trump schwärmen. Lohr erhofft sich von ihm „eine historische Zeitenwende“, vor allem eine Annäherung der USA an Russland. Als Trump die Wahl unerwartet gewinnt, sagt er, das habe ihn nicht überrascht. In Deutschland sieht Lohr sich und die AfD in Trumps Rolle des Kämpfers gegen das Establishment.

2017 wird ein großes Jahr für seine Partei, glaubt Lohr. Erst wird der Landtag von Nordrhein-Westfalen gewählt, wo die AfD noch nicht vertreten ist, dann der Bundestag. Bei jungen Wählern habe die AfD „ein Riesenpotenzial“ – die seien „noch nicht so sehr geprägt von dem, was in Deutschland als die richtige Meinung gilt“. Lohr hat es auch zum Landesvorsitzenden der Jungen Alternative gebracht. Anders als früher ist er jetzt umgeben von Leuten, die ihm gewöhnlich zustimmen.

4. Thüringen

An einem Septembertag tritt eine vollverschleierte Frau aus dem Fahrstuhl des Thüringer Landtages. Sie trägt ein Manuskript in den Händen, läuft durch die Flure und wird dabei gefilmt. Als sie im Plenarsaal anlangt, wird die Sitzung ihretwegen unterbrochen. Kurz darauf legt Wiebke Muhsal, 30 Jahre alt, Abgeordnete der AfD, den Nikab ab, zum Vorschein kommen lange blonde Haare, die ihr bis zur Hüfte reichen. Muhsal tritt ans Rednerpult: „Der Schleier macht Frauen gesichtslos, das wurde hier verdeutlicht“, sagt sie. Für ihre Aktion kassiert sie einen Ordnungsruf, und auf YouTube wird das Video von 39.000 Menschen aufgerufen, fast alle Zeitungen berichten. Muhsal hat erreicht, was sie erreichen wollte – maximale Aufmerksamkeit.

Muhsal ist eine Frau, die viel Aufsehen erregt. Ihr wurde vorgeworfen, bei einer Veranstaltung an der Erfurter Uni eine Frau gebissen zu haben, das Verfahren wurde eingestellt. Nun beschuldigt eine ehemalige Mitarbeiterin sie, deren Arbeitsvertrag um zwei Monate vordatiert zu haben. Von den beiden Scheingehältern will die Mitarbeiterin auf Anweisung Muhsals einen Internetauftritt sowie Möbel und Einrichtung für das Wahlkreisbüro in Jena bezahlt haben. Das Verfahren läuft noch.

Jetzt sitzt Wiebke Muhsal auf dem Jenaer Marktplatz, auf den Tisch zwischen sich und der Interviewerin hat sie einen Block gelegt, als wolle sie mitschreiben. Bis zum Schluss wird sie aber kein einziges Wort notieren. Die „Kopftuchaktion“, wie sie es nennt, hatte sie schon lange geplant. „Ich wollte aufzeigen, was für eine Wirkung es hat, gesichtslos zu sein.“ Die Abgeordneten der anderen Parteien hätten sich sehr aufgeregt, sagt sie. Auf einmal sahen sich die Grünen fast in der Situation, die Vollverschleierung der Frau verteidigen zu müssen, worüber sich Muhsal heute noch sehr amüsiert. Es sind diese Widersprüche der anderen, die die AfD stärken. Und die AfD-Anhänger gehen stets einen Schritt weiter: Sie protestieren nicht nur gegen den Nikab, sie ziehen gleich einen über. Das Spiel mit der Entgrenzung: Wie weit kann man gehen? Die Trumpisierung der Politik.

Muhsal hat drei Kinder, vier, sechs und acht Jahre alt. Im Augenblick ist ihr Mann in Elternzeit, damit sie Vollzeit Politik machen kann. Das entspricht nicht dem klassischen Familienbild, das die AfD und auch sie propagieren. Was also stört Muhsal an Frauen, die 40 Stunden in der Woche arbeiten? „Frauen werden von der etablierten Politik primär als Arbeitskraft gesehen, sollen sich komplett an den Arbeitsmarkt anpassen. Familien sollten ihr Leben selbst einrichten können. Es sagt ja keiner, dass die Frau lebenslang zu Hause bleiben soll, im Gegenteil.“ Das sieht die Familienministerin Manuela Schwesig ähnlich. Und sie ist in der SPD.

Seit 14 Jahren ist Muhsal mit ihrem Mann zusammen, mit 21 kam das erste Kind. Zum Jurastudium zog sie in den Osten, nach Jena, aufgewachsen ist sie in Münster, Nordrhein-Westfalen. Ihre Mutter arbeitet als Lehrerin, ihr Vater ist ein Privatier, er verdient sein Geld mit Aktien. Während des Studiums bewarb sich Muhsal bei der Konrad-Adenauer-Stiftung, die CDU wäre ihre natürliche politische Heimat gewesen. „Aber die hat sich von ihren Werten entfernt.“ Muhsal hat die CDU schon verlassen, als die AfD noch gar nicht existierte. Sie sei politikverdrossen gewesen, sagt sie. Vielleicht ist sie auch deshalb 2005 in die katholische Kirche eingetreten. Sie war auf der Suche. Wenn man sie fragt, wonach, bemüht sie sich, das Wort „Sinn“ zu vermeiden. Das klingt ihr zu esoterisch. Wenn sie jetzt in Erfurt auf den AfD-Kundgebungen spricht, schaltet der Bischof das Domlicht aus. Das ärgert Muhsal.

Das Thema Kirche hatte sie schon bei der ersten Begegnung mit ihr im Januar umgetrieben. Eine Demonstration der AfD auf dem Jenaer Marktplatz, auf dem sie jetzt sitzt. Vor ihr warteten damals etwa 750 AfD-Anhänger und hinter ihr 2500 Gegendemonstranten, die laut Technomusik abspielten. Muhsal sprach als Erste. Sie wirkte aufgebracht, ein paar Tage zuvor war ihr Jenaer Wohnhaus mit Farbbeuteln beworfen worden. Und zu Silvester hatten Flüchtlinge in Köln Frauen sexuell belästigt. „Jena ist nicht Köln“, rief sie über den Platz und griff Merkels Flüchtlingspolitik an. „Die Bundesregierung ist dabei, aus Jena Köln zu machen.“ Da sprach eine attraktive, zierliche, blonde Frau in langem schwarzem Mantel. Ein potenzielles Opfer. Das verlieh ihren Worten zusätzliche Wucht. Die Menge rief: „Merkel muss weg!“ Danach redete Muhsal eine Viertelstunde über die junge evangelische Gemeinde in Jena, die den Ruf hat, politisch sehr weit links zu stehen, über „den linken Sumpf, der nicht trockengelegt wurde“. Am Ende blieb der Eindruck, Muhsals wahrer Gegner sei nicht Merkel, sondern die Kirche. Beim Essen nach der Demonstration mit Alexander Gauland und Björn Höcke in der Grünen Tanne, dem Lokal der Burschenschaft Arminia, thronte Muhsal am Kopf des Tisches. Um sie herum saßen junge AfD-Männer, und sie las laut vom Display ihres Handys ab, was die Thüringer Presse über ihren Auftritt schrieb.

Jetzt auf dem Jenaer Marktplatz zerkaut sie die Eiswürfel ihrer Apfelschorle. Sie nimmt ihren Parteiausweis aus der Handtasche und legt ihn auf den Tisch. Am 5. November 2013 trat sie ein. Einerseits ist Muhsal gegen die Frauenquote, andererseits mahnt sie Frauenrechte an, fürchtet eine Islamisierung Deutschlands. „Wenn man sich die Situation der Frau im Islam anguckt, da müssen wir uns fragen: Wie wollen wir leben?“ In Thüringen leben weniger als ein Prozent Muslime. Sieht sie ernsthaft die Gefahr einer Minorisierung der Deutschen? „Wir sehen die Entwicklung von Parallelgesellschaften in Westdeutschland. Man muss nicht so lange warten, bis es so weit ist.“ Muhsal lächelt nun. Sie könnte ihr zweites Staatsexamen ablegen und Richterin werden, wie sie es sich wünscht. Warum engagiert sie sich in der AfD? „Ich will das Gefühl haben, dass das, was ich mache, zählt. Dass es etwas bewirkt.“ Diesen Satz sagen mehr oder weniger alle Gesprächspartner von der Jungen Alternative. Im Augenblick scheint es, als könne man kaum irgendwo mehr bewirken als in dieser Partei. Dort ist die Kritik „am herrschenden System“ am lautesten und wird am meisten wahrgenommen. Sie sind die neuen Unbekannten, über die Texte wie dieser geschrieben werden, um zu ergründen, wer sie sind und was sie antreibt. Die Frage bleibt: Was hat all diese jungen Menschen so weit vom System entfernt?

5. Sachsen-Anhalt

Ein Café im Zentrum von Bitterfeld. Durch die Glasfront kann man gut beobachten, was in der Stadt so vor sich geht: nicht viel. Die meisten Häuser in der Innenstadt sind renoviert, aber die Straßen sind leer. Auch im Café ist an einem Werktag gegen Mittag fast niemand. Daniel Roi kommt pünktlich, ein Mann mit Kinnbart und strengem Gesichtsausdruck. Sein Polohemd ist bis oben zugeknöpft. Er bestellt Würzfleisch, einen Klassiker der DDR-Küche, mit Käse überbackenes, stark gewürztes Schweinefleisch.

Daniel Roi ist Landtagsabgeordneter in Magdeburg, seine AfD hat unter allen Landesverbänden den wohl schlechtesten Ruf. Ein Kollege Rois hat gefordert, mit der Identitären Bewegung zusammenzuarbeiten. Roi hat mit einem offenen Brief dagegengehalten: Die AfD in Sachsen-Anhalt müsse ihr „Schmuddel-Image“ loswerden. Vom Landesvorstand der Partei wurde er für den Brief gerügt, es scheint ihm nichts ausgemacht zu haben. Wahrscheinlich hat der Brief seine Machtposition eher gestärkt.

„Ich sehe mich als Kämpfer für die unterste Ebene, die Kommunen“, sagt er. Die bunten Fassaden vor dem Fenster mag er nicht als Zeichen von Wohlstand deuten, für ihn ist es hier düster: leere Kassen, Abwanderung, zu viele Flüchtlinge, die womöglich gar keine sind. Dabei geht es Bitterfeld gar nicht so schlecht, die Arbeitslosenquote liegt unter dem Landesdurchschnitt. Doch Roi sagt: „Das kann man niemandem erklären, dass Jugendclubs und Grundschulen hier schließen, und für die Flüchtlinge ist plötzlich Geld da.“ In Bitterfeld und Umgebung herrsche „ein Riesenverdruss“.

Roi ist erst 28, und er hat die AfD in Sachsen-Anhalt groß gemacht. Er hat den Landesverband mitgegründet und dann den Wahlkampf organisiert, der zum bisher größten Erfolg der AfD führte: 24,3 Prozent. In Bitterfeld sitzt Roi auch im Stadtrat und im Kreistag, hier hat er ein Direktmandat geholt, wenige junge AfDler sind so erfolgreich wie er. Bitterfeld ist durch ihn zu einem Symbol geworden: AfD-Land, das seine Gegner „Dunkeldeutschland“ nennen. Für seine Leute ist Roi ein Sieger. Warum wirkt er so mürrisch?

Er sagt, schon im Stadtrat habe er die Erfahrung gemacht, dass die anderen Parteien „alle unter einer Decke stecken“. Das Gleiche erlebe er nun auch im Landtag. Der sei „eine Riesenshowbühne“, in der „die Probleme nicht gelöst werden“.

Das Parlament herabzusetzen ist eine Taktik, die man bei rechten Parteien immer wieder findet. Für Roi vertritt allein seine Partei das Volk gegen eine abgehobene Elite, die die Lebenswirklichkeit nicht mehr erkenne. Für Roi gibt es nur dieses „wir gegen die“ – hier die kleinen Leute gegen jene, die die Entscheidungen treffen. Es ist ein Weltbild der Ohnmacht, das Roi vertritt. Wenige verstehen es so gut wie er, die Wut des Ostens in politische Energie zu verwandeln. Doch nun ist er selbst Teil der Show, auch seine Freundin sitzt für die AfD im Landtag.

Daniel Roi ist in Wolfen geboren, er wächst in einer der größten Plattenbausiedlungen Deutschlands auf. Damals, in den neunziger Jahren, ist Bitterfelds Zeit als schmutzigste DDR-Industrieregion bereits vorbei. Rois Mutter ist Friseurin, sein Vater Streckenkontrolleur bei der Straßenmeisterei. Ein konservatives Arbeitermilieu, so beschreibt es Roi, man wählt mal die eine, mal die andere Volkspartei. Sein Vater stirbt früh. Mit 18 gründet Roi eine Bürgerinitiative gegen die Gebietsreform, die Bitterfeld und Wolfen zusammenschweißt. Bis heute könne sich niemand mit dem Konstrukt identifizieren, sagt er, „das ist wie mit der EU“.

Roi studiert schließlich Agrarwissenschaften in Bernburg, eine knappe Autostunde von Bitterfeld entfernt. Ganz weg will er nicht. Schon mit zehn Jahren ist er der freiwilligen Feuerwehr seines Stadtbezirks beigetreten, heute ist er Vorsitzender des Feuerwehrvereins. Sein Wahlkreis umfasst das Viertel, in dem er einmal in die Kita ging.

Mit Parteien konnte er lange nichts anfangen. Wenn, dann taugten sie als Feindbild. Das sind heute für Roi vor allem die Grünen. Sie wollten „alles abschaffen, was Deutschland ausmacht, das Brauchtum, die Kultur“. Auf die Plakate für die Landtagswahl lässt er später die Deutschlandfahne vor weiter Landschaft drucken, das genügt.

Wie Franziska Schreiber aus Dresden ist Daniel Roi 2013 im Fernsehen auf den damaligen AfD-Vorsitzenden Bernd Lucke aufmerksam geworden. Mehrmals fällt ihm Lucke in Talkshows auf, schließlich auch in jener hart aber fair- Sendung, in der die anderen Gäste Lucke als Europafeind angreifen, weil der die Einführung des Euro für einen Fehler hält. Diese Einmütigkeit erscheint Roi „völlig irre“. Auf Facebook entdeckt er ein Grundsatzpapier der gerade eben gegründeten AfD. „Ob es um Steuern ging oder um Gender“ – Roi spricht Gender mit deutschem G aus – „oder um Einwanderung nach klaren Regeln, ich konnte unter alles einen Haken machen.“ Der Betreuer der AfD-Facebook-Seite diskutiert viel mit den Leuten, die dort Beiträge schreiben, das gefällt Roi. Von allen Parteien hat die AfD heute die meisten Facebook-Anhänger, mehr als doppelt so viele wie die CDU.

Die anderen Parteien nennt Roi „Lügenbande“. Wie Roi reden viele in der AfD. Sie rechtfertigen das damit, dass die AfD ja von den anderen Parteien auch angegriffen werde – und von den Medien noch dazu. Als nach dem AfD-Wahlrekord in Bitterfeld Spiegel-TV in die Stadt kommt, sieht eine Reporterin nach einer Straßenumfrage nur Hass und „Neid auf Ausländer“. Man kann Rois Weltbild hermetisch finden, aber das der Gegenseite ist manchmal nicht unbedingt durchlässiger.

Aus dem Landtag in Magdeburg, wo CDU, SPD und Grüne gemeinsam die Regierung bilden, hört man, Roi trete dort sehr kühl und distanziert auf. Wie in allen anderen Landtagen, denen die AfD angehört, hat sie sich auf strikte Opposition festgelegt. „Irgendwann werden wir hier regieren“, sagt Roi, „wenn auch nicht in dieser Legislaturperiode.“

6. Baden-Württemberg

Auch wenn in den USA nicht nur die „angry white men“ Donald Trump gewählt haben, bilden sie doch seine stärkste Machtbasis. In Deutschland sind die zornigen weißen Männer vor allem in der AfD – wie der Vorsitzende der Jungen Alternative, Markus Frohnmaier, und sein Stellvertreter, Reimond Hoffmann. Die beiden gelten als rechte Hardliner ihrer Partei.

Reimond Hoffmann erscheint als Erster im Restaurant neben dem Stuttgarter Landtag, in dem 22 Abgeordnete der AfD sitzen, die Partei hat hier im Frühjahr ihr zweitbestes Ergebnis in Deutschland erzielt. Hoffmann ist 29, Burschenschaftler, trägt einen dunkelblauen Anzug und ein weißes Hemd, seine Haare sind bis auf die Kopfhaut abrasiert. Aufgewachsen ist er in Freiburg im Breisgau. Wenn man ihm zuhört, war dies eine Zumutung – unter einer „linken Oberherrschaft“ mit einem Bürgermeister der Grünen. Im Unterricht musste Hoffmann Ökohäuser besuchen, zu Anti-Irakkriegs-Demos wurde er „abkommandiert“. Er hatte das Gefühl, er sollte lernen, Skepsis gegenüber Deutschland zu empfinden, und wünschte sich nichts mehr, als sein Land gut zu finden. Die Lehrer und Mitschüler seines Gymnasiums seien eindeutig links gewesen, sagt er, mit 14 Jahren trat er in die Junge Union ein. „Wenn du jung und männlich bist, willst du rebellieren.“ Damals galt die CDU noch als Hort der Rebellion in Freiburg.

Und dann sah Hoffmann, wie die CDU nach und nach von ihren konservativen Überzeugungen abrückte. Er nennt nur Schlagworte: die Abschaffung der Wehrpflicht, der Islam gehört zu Deutschland, die Akzeptanz der Homo-Ehe. Seine Wut wuchs, und so verließ Hoffmann vorerst Deutschland, um in Budapest Internationale Wirtschaft zu studieren. Als schließlich gegen Ende seines Studiums die AfD gegründet wurde, flog er sogleich zum ersten Landesparteitag nach Baden-Württemberg. Er sagt, ihm sei damals schon klar gewesen, dass es nicht nur um den Euro gehe, sondern um ein neues gesamtgesellschaftliches Konzept. Hoffmann will den Umbruch. „1968 in umgekehrter Richtung.“ Die Rache an seinen Lehrern.

In diesem Augenblick stößt sein Chef Markus Frohnmaier hinzu, er hatte im Stau gestanden. Im ersten Moment möchte man laut auflachen, die beiden sehen sich sehr ähnlich, auch Frohnmaier ist klein, trägt Blau, und seine Haare sind kurz rasiert. Er ist vier Jahre jünger als Hoffmann und ein wenig fülliger. Frohnmaier studiert Jura und ist zugleich einer der Sprecher der Parteivorsitzenden Frauke Petry. Die beiden Männer kennen sich seit 2013, als sie die Junge Alternative mitgründeten. Sie führen diese gemeinsam mit Sven Tritschler, dem zweiten Vorsitzenden, der in Köln lebt und sich als Europa-Hasser gibt, obwohl er im Europaparlament arbeitet. Sieht man in ihre Gesichter, sieht man die Zukunft der Partei.

Einige der Älteren in der AfD halten die Jüngeren für rechts, für extremer als den Rest der Partei. „Wir versuchen, mit Tabubrüchen auf uns aufmerksam zu machen“, sagt Frohnmaier. „Damit sind wir sehr erfolgreich. Ich kenne keine andere Parteijugendorganisation, die eine ähnliche Durchschlagskraft hat.“ Schon 2013 nahm Frohnmaier Kontakt zu Mitgliedern der österreichischen FPÖ auf, damals wurde er dafür noch von der Parteiführung abgemahnt. Diesen Sommer traf sich Frauke Petry mit dem FPÖ-Vorsitzenden. Frohnmaiers Forderung „Einwanderungsstopp für Muslime“ hat inzwischen auch Alexander Gauland übernommen. Keine Frage: Frohnmaier und Hoffmann sehen sich als Avantgarde ihrer Partei.

Eine der Tabubruch-Kampagnen hat Reimond Hoffmann erfunden. Als Antwort auf die Juso-Kampagne „Wir brauchen Feminismus, weil …“ forderte er JA-Mitglieder auf, Slogans auf Pappschilder zu schreiben – Slogans wie: „Ich bin kein Feminist, weil jede Frau selbst entscheiden kann, ob sie Hausfrau wird.“ Über Feminismus und Genderthemen können sich Hoffmann und Frohnmaier sehr aufregen. Die beiden machen sich lustig darüber, dass man bei Facebook zwischen sechzig verschiedenen Geschlechteridentitäten wählen kann. „Es gibt zwei Geschlechter. Und es gibt Unterschiede zwischen Mann und Frau“, darin sind sich Hoffmann und Frohnmaier einig. Als die Reporterin später für alle die Rechnung bezahlt, sagt Reimond Hoffmann: „Ich lasse mich eigentlich nicht gern von Frauen einladen.“

Hoffmann und Frohnmaier sind Männer, die gern provozieren. Es fällt auf, dass sich viele junge AfDler wenig Mühe geben, bei ihrem Gegenüber gut anzukommen. Im Unterschied zu Politikern anderer Parteien wollen sie nicht gefallen. Eigentlich finden sie es sogar besser, abgelehnt zu werden. In der Ablehnung sind sie stark und können sich stets ungerecht behandelt fühlen. Wie die meisten jungen AfD-Anhänger setzen Frohnmaier und Hoffmann gern Ausrufezeichen an das Ende ihrer Sätze, und sie setzen gern mehrere hintereinander. Innerhalb von Sekunden schaffen sie alle Genderbeauftragten Deutschlands als unnütz ab und überlegen, wem man das Geld stattdessen geben sollte: den Ingenieurwissenschaften. Was irritiert, sind nicht immer ihre Aussagen oder ihre Fragen – manche davon sind auch berechtigt. Was irritiert, ist ihre Gewissheit, absolute Wahrheiten zu verkünden. Dialog scheint innerhalb ihres Systems nicht zu existieren. Diejenigen, die sich so gern auf die Meinungsfreiheit berufen, brüllen ihrerseits gern Andersdenkende nieder. Hoffmann schreibt auf Facebook zum Tag der Deutschen Einheit in Dresden: „Danke vor allem an jene Patrioten, die in Dresden den Auftritt von Angela Merkel mit Protesten und Rufen begleiten.“

Beiden Nachwuchspolitikern wird eine Nähe zur rechtsextremen Identitären Bewegung nachgesagt. In diesem Sommer hat die Junge Alternative sich offiziell von ihr distanziert, es gibt einen Unvereinbarkeitsbeschluss. „Wir können nicht mit einer Organisation kooperieren, die vom Verfassungsschutz beobachtet wird. Wir dürfen uns nicht angreifbar machen“, sagt Frohnmaier. „Auch wenn ich die Beobachtung durch den Verfassungsschutz nicht nachvollziehen kann.“ Er hält ein bisschen Distanz, aber nicht zu viel, um die Anhänger der Identitären nicht zu verärgern.

Es gibt Hinweise, dass Frohnmaier bei der ebenso vom Verfassungsschutz beobachteten islamfeindlichen German Defence League (GDL) aktiv war. Er wehrt ab. „Eine Beteiligung in Form einer Mitgliedschaft hat nie stattgefunden.“ Er kenne nur Leute aus deren Umfeld. Vor der Jungen Alternative habe er sich viele Bewegungen angeschaut, wie die Identitären und die GDL, weil die etwas tun wollten gegen den Islamismus. Reimond Hoffmann mischt sich ein, er sagt, sie schauten sich aber auch ihre linken Gegner an: Femen zum Beispiel, die Feministinnen, die meist barbusig demonstrierten. Die beiden halten die Daumen hoch. Das gefalle ihnen. Sie kichern.

Als gelungenes Beispiel kultureller Assimilation nennt Frohnmaier dann auch seine russische Verlobte: „Sie will deutsches Brauchtum und die Sprache kennenlernen.“

Überhaupt Russland. Frohnmaier war mehrmals dort. „Ich bin stolz, dass wir die erste Jugendorganisation sind, für die das transatlantische Westbündnis keine heilige Kuh mehr ist.“ Er lässt seine Worte kurz wirken. „Wir versuchen, vorbildlich die Sanktionen gegen Russland umzusetzen, aber machen Geschäfte mit China und Saudi-Arabien. Die Altparteien sind nicht konsequent.“

Altparteien nennt er alle anderen Parteien außer der AfD. Es klingt nach antik, überholt, dem Tod geweiht. Das passt zu einem von Frohnmaiers umstrittensten Auftritten bei einer Kundgebung im Oktober 2015 in Erfurt. Dort steht er in dicker Jacke hinter einem Pult, um das eine Deutschlandflagge gewickelt ist. Die Stimmung ist aufgeheizt, die Menge ruft abwechselnd „Lumpenpack“ und „Volksverräter“, wenn es um die „Altparteien“ geht. Zu Beginn fast schüchtern, steigert sich Frohnmaier in seine Rede hinein, brüllt schließlich fast ins Mikrofon: „Wenn wir kommen, wird aufgeräumt, dann wird ausgemistet!“ Er habe die Politik gemeint, nicht die Menschen, sagt er heute. Die Grünen bezeichnet er nur als „die Partei mit eigener Pädophiliekommission“. \Die Grünen symbolisieren auch für Hoffmann und Frohnmaier alles, was falsch läuft in Deutschland, sie stehen für Gender-Mainstreaming, Feminismus, Veggie-Day, Abtreibung, Multikulti, Anti-Atomkraft. Für die beiden sind die Grünen die Vertreter der verhassten 68er, die ihnen vorschreiben wollen, was moralisch richtig ist und was nicht. „Die deutsche Geschichte ist mehr als Völkermord und Kriegsschuld“, sagt Hoffmann.

Was die großen historischen Traumata angeht, offenbart sich bei den jungen AfD-Anhängern Geschichtsmüdigkeit. Sie vereint die Sehnsucht nach einem Ende der Vergangenheit. Nach einem Ende der Schuld. Im Unterschied zu früher teilen sie diese Sehnsucht nicht nur mit ein paar Rechtsextremen, sondern sie reicht bis tief in die junge Mittelschicht hinein. Deshalb betont der AfD-Nachwuchs nun das Gegenteil: die Liebe zur Heimat, das Patriotische. In gewissem Sinne ist die junge AfD der Backlash gegen die deutsche Erinnerungskultur.

Was bleibt nach dieser Reise? Auch wenn es nur ein Ausschnitt ist: viele junge Menschen, in der Mehrheit Juristen, denen es gut geht, die aber befürchten, dass sich daran etwas ändern könnte. Die gern mit Gesetzen argumentieren, um ihre Ansichten zu stützen, als hätten Gesetze auf jede Frage des Lebens eine verbindliche Antwort. Mittelschichtskinder, vereint in ihrem Hass auf „die Eliten“ und das „Establishment“ und in ihrem Streben nach Macht, das sie zu einem Teil dieses Establishments machen könnte. Im Umgang mit der Presse geben sie sich misstrauisch bis übellaunig, zugleich suchen sie das Scheinwerferlicht. Vor ein paar Jahren wären die meisten von ihnen vermutlich in der CDU gelandet.

Nun scheinen sich CDU, SPD, Grüne und selbst Linke aber in vielem sehr einig zu sein und bezeichnen ihre Politik gern als „alternativlos“. Dadurch wirken sie oft selbstgefällig, setzen damit Andersdenkende von vornherein herab oder brandmarken sie als moralisch und politisch inkorrekt. Und nun sagen die Unzufriedenen, verstärkt durch die sozialen Netzwerke, auf einmal öffentlich Sätze, die man für unsagbar, vertreten Überzeugungen, die man für überwunden hielt – und können sich dabei wie die neuen Rebellen fühlen.

Irgendwann an diesem Nachmittag in Stuttgart kommt heraus, dass es zwischen Frohnmaier und Hoffmann eine ganz eigene Verbindung gibt, dass die „Liebe zu Deutschland“ für sie eine ganz eigene Bedeutung hat. Markus Frohnmaier wurde als Baby aus einem rumänischen Kinderheim adoptiert und wuchs in Schwaben auf. Und auch Reimond Hoffmann wurde in Rumänien geboren. Seine Familie gehört zur deutschen Minderheit der Banater Schwaben. Sein Vater saß wegen eines Fluchtversuches im Gefängnis, sein Großvater war im Gulag. Unter dem früheren Präsidenten Ceauşescu wurden die Minderheiten verfolgt. Hoffmanns Familie musste ihr Deutschsein unterdrücken. Erst 1989, als Reimond Hoffmann drei Jahre alt war, zog die Familie nach Deutschland. Endlich durfte Hoffmann Deutscher sein. Er sagt: „Ich würde gern stolz sein auf das, was ich bin.“

Der Chef und sein Stellvertreter sind gebürtige Rumänen. Zwei Einwanderer, die nun gegen Einwanderer sind. Zwei, die fordern, dass in den Schulen morgens die deutsche Nationalhymne gesungen wird. Zwei, für die Deutschland ihre ganze Identität bedeutet. Der Spruch der von ihnen verachteten 68er betrifft sie auf besondere Weise: Das Private ist politisch.